Als ich 4 Monate alt war verbrachte ich zusammen mit meinen Großeltern meinen allerersten Urlaub in Knokke. In meiner kompletten Kindheit habe ich dann so gut wie alle Ferien mit der ganzen Familie in Middelkerke verbracht. Als Jugendlicher habe ich auch weiter oft meine Großeltern, die von März bis November an der belgischen Küste wohnten, besucht und in deren Garten gezeltet. Heute zieht es mich mindestens einmal im Jahr ans Meer.
Viele Leute behaupten die belgische Küste sei hässlich. Zugebaut mit mehrstöckigen Appartementsblöcken und bis zum Strand zugepflastert. Bausünden der letzten 70 Jahre stehen in Reih und Glied an der Küste entlang und verschandeln die Landschaft. Die Natur wird immer weiter in das Hinterland verdrängt und nur selten mit ins Stadtbild einbezogen. Was viele nicht wissen ist, dass dies nicht immer so war und vor allem nicht überall so ist.
Die (belgische) Küste
Die Insel Testerep
Als nach der letzten Eiszeit die Eisschilde begannen zu schmelzen, bildeten sich in der Nordsee einige Sandbänke. Schnell verwilderten diese zu Dünen und es entstanden daraus Inseln. Eine der Inseln, Testerep genannt, wurde ab dem 7. und 8 Jahrhundert von Schäfern besiedelt. Diese gründeten die Orte Ostende (am östlichen Ende der Insel), Westende (am westlichen Ende der Insel) und Middelkerke (zwischen Ostende und Westende, in der Mitte der Insel).

Graaf Jansdijk
Im Mittelalter wurde die Küste immer weiter durch Kanäle und Polder entwässert. 1404 formte dann die St-Elisabeth-Flut die komplette Küste neu. Sie vernichtete zahlreiche Sandbänke, Inseln und ganze Orte. Zum Schutz vor weiteren Fluten ließ Graf Jan entlang der kompletten flämischen Küste ein Deich bauen. Dieser gab der Küste seine jetzige, schnurgerade Form.
Im Schutz des Deichs entstanden kleine Fischerdörfer. Die Menschen in den Ortschaften entlang der Küste und den dahinterliegenden Poldern lebten vor allem von der Fischerei und der Landwirtschaft. Jahrhundertelang sollte sich daran nichts ändern. Dünen, Kanäle und weite Sandstrände dominierten das Landschaftsbild. Einen Eindruck des damaligen Lebens in einem Fischerdorf kann man sich heute in dem Freilichtmuseum in Raversyde machen.

Die Belle Époque an der Küste
Der typische Strandurlaub hat sich von England aus ab dem 18. Jahrhundert etabliert. Dieser Trend schwappte schnell rüber zu den Hafenorten an der belgischen Küste. Während des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Orte wie Ostende, De Haan, Knokke oder Blankenberge zu mondänen Seebädern. Gut betuchte Gäste aus ganz Europa kamen gerne, um diese zu besuchen. Direkt am Meer errichtete man viele prächtige Hotels, Casinos und Restaurants im typischen Stil der Belle Époque. Per Zug erreichte man schnell und einfach an die Bahnhöfe, die entlang der Küste entstanden. Verbunden wurden einzelne Orte von der von Pferden gezogenen Straßenbahn.
Orte, die nicht direkt an der Küste liegen (zum Beispiel Oostduinkerke oder Koksijde) errichteten eigene Ortsteile direkt an der Küste. Sie wollten so auch vom boomenden Tourismus profitieren. Sie gaben ihnen den Zusatz -Bad (z.Bsp. Oostduinkerke-Bad) um ihre Nutzung als Badeort zu betonen.
Einer der wenigen Orte an der belgischen Küste in dem viele der alten Gebäude vollständig erhalten geblieben sind ist De Haan. Dort sucht man auch vergebens nach vielstöckigen Betonklötzen die direkt an der Küste stehen. Mqn findet dort vor allem kleine und größere Villen, teilweise im Art Déco oder Art Nouveau Stil.
Nach Ostende war Blankenberge der zweite Ort, der zu einem Seebad ausgebaut wurde. Daher sind dort auch noch sehr viele Straßenzüge mit alten Bauten zu finden. Doch der Platz in direkter Küstennähe wurde immer weniger. Also fing man an auch in Knokke, Heist und De Panne an Seebäder zu errichten.
Ostende – die Königin der Seebäder
König Leopold I war begeistert von der englischen Badekultur. Er hatte viele Badeorte an der englischen Küste besucht und wünschte sich für das junge Belgien einen ähnlichen Ort, an dem er den Sommer verbringen konnte. Er war es, der aus Ostende ein Seebad machte. Mit ihm verbrachten viele der durch die Industrialisierung reich gewordenen Geschäftsleute den Sommer in Ostende. Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung König Leopolds II, entwickelte sich Ostende dann immer weiter zu einer mondänen Stadt am Meer. Er lies Theater, Casinos, eine Pferderennbahn, Parks eine Bibliothek und eine königliche Residenz bauen. Ostende gelang es so sich als „Königin der Seebäder“ einen Namen in ganz Europa zu machen. Wichtige internationale Verbindungen, wie der Orient-Express oder der Ostende-Wien-Express endeten in Ostende. Über Fähren war zusätzlich die englische Küste und somit das gut ausgebaute britische Schienennetz leicht zu erreichen.

Die Weltkriege
Der Erste Weltkrieg setzte dem Glanz der belgischen Küste ein jähes Ende. Er zerstörte einen Großteil der prächtigen Gebäude. Vor allem die Hafenstadt Ostende hatte sehr unter der Belagerung gelitten. Die prachtvollen Bauten entlang der Promenade wurden komplett dem Erdboden gleich gemacht. Beim Wiederaufbau riss man beschädigte historische Bauten ab und ersetzte sie durch moderne meist aus Beton. In dieser Zeit begann man auch die einzelnen Orte durch die Kusttram, der längsten Straßenbahn der Welt, miteinander zu verbinden.
1936 verabschiedete man ein Gesetz, dass auch der Unterschicht ein Recht auf Urlaub versprach. Dies ermöglichte auch ärmeren Familien sich einen Aufenthalt am Meer zu ermöglichen. Der erste Massentourismus erreichte die Küstenregion.
Doch kaum hatte sich der Tourismus vom Ersten Weltkrieg erholt, brach der Zweite Weltkrieg aus. Auch dieser zerstörte wieder zahlreiche (historische) Gebäude und es entstanden große Bunkeranlagen entlang der Küste. Einige der größten noch erhaltenen Bunker sind in Raversyde zu besichtigen.

Bausünden und Tourismusboom
In der Nachkriegszeit setzte dann der Tourismusboom schnell wieder ein. Schnell mussten viele Unterkünfte für die stetig wachsende Anzahl Touristen geschaffen werden. Die Gebäude schossen in die Höhe, um auf geringer Fläche viel Wohnraum bieten zu können. Viele der übrig gebliebenen Häuser aus den Glanzzeiten mussten neuen, höheren und funktionaleren Gebäuden weichen. Die Küste bekam schnell ihr heutiges Aussehen.
Im Hinterland und in den Dünen etablierte sich der Camping. Zahlreiche Campingplätze eröffneten, um Stellplätze für Zelte und später Wohnwagen zu vermieten.
Das Auto wurde als Transportmittel immer populärer und machte die belgische Küste auch für Städter im Binnenland zum beliebten Ausflugsziel. So entwickelte sich der komplette Küstenstreifen und sein direktes Hinterland zur bis heute touristischsten Region Belgiens. Leittragender dieser enormen Verstädterung war die Natur, die immer weiter eingeengt wurde.

Umdenken seit der Jahrtausendwende
Heutzutage geht man bewusster mit der Natur um. Einige Abschnitte der belgischen Küste sind wieder völlig sich selbst überlassen. Flora und Fauna der Dünen können sich in Naturreservaten wieder bis an den Stand ausbreiten. An den langen Strandabschnitten hat man teilweise Dünen aufgeschüttet und mit ihrer typischen Vegetation bepflanzt.

Alte, in die Jahre gekommene Bausünden machen nun Platz für neue, modernere Gebäude. Außerdem setzt man im Städtebau wieder vermehrt auf traditionelle Bauweisen. Man will weg vom Beton dominierenden Stilen der 50er und 60er Jahre. Alte, traditionelle Baustile, sowie anglo-normannische Elemente oder Stile der Belle Époque werden mit modernen Stilen gekonnt kombiniert (zum Beispiel im neuen Hafenviertel von Nieuwpoort).

Die Zukunft der belgischen Küste
Auf den alten Docks und dem militärischen Teil des Ostender Hafens, sowie in direkter Bahnhofsnähe entsteht seit einigen Jahren ein ganz neues Stadtviertel. Unter dem Namen Oosteroever werden dort eine Vielzahl moderner Appartementsgebäude gebaut.

Außerdem wird seit einigen Jahren davon gesprochen wieder Personenfähren von Ostende ins englische Ramsgate ausfahren zu lassen. Diese Verbindung war 2013 aufgegeben worden. Doch die Stadt Ostende will seinen Standpunkt als touristischer Hauptort an der belgischen Küste weiter ausbauen und sich mit den Personenfährverbindung interessanter präsentieren.
Ein weiteres großes Projekt befindet sich auf ein paar Sandbänken in der Nordsee vor der belgischen Küste unter dem Namen C-Power. Dort sorgt ein Windpark für grünen Strom. Dieser soll auch in den nächsten Jahren weiter ausgebaut werden. Bei gutem Wetter sind die Windräder vor der Küste gut zu erkennen.

Einen Eindruck der kompletten belgischen Küste habe ich in meinem Beitrag zur Wanderung entlang der belgischen Küste von De Panne nach Knokke geschildert.
Übrigens, die kälteren Monate eigen sich perfekt für einen Spaziergang entlang der belgischen Küste; die Touristenmassen der warmen Monate versperren einem nicht die Sicht auf das Meer, die weiten Strände scheinen einem alleine zu gehören und man riskiert keinen schlimmen Sonnenbrand, wenn man sich den ganzen Tag am Meer aufhält. Und wenn man sich passend zum Wetter kleidet, ist einen eh warm, da man immer in Bewegung ist.
Hallo Andy,
sehr schöner und für mich auch lehrreicher Artikel, da ich die Geschichte und Entwicklung bisher nicht kannte. Bin gespannt auf die nächste Story!
Viele Grüße Thorben
Hallo Thorben,
Das freut mich, dass es dir gefällt und dass du noch was gelernt hast :). Ich bin schon mitten in den Recherchen für meinen nächsten Beitrag, also bleib am Ball ;).
Ein toller Artikel über diese Region, die zu unrecht bei deutschen Touristen nur ein Schattendasein führt. Wir selbst haben mit Kleinkind 2016 zwei Wochen diese Gegend erkundet und vieles erlebt und schöne Erinnerungen mit nach Hause genommen. Unsere Erlebnisse haben wir auch in einem Reisebericht zusammengefasst:
https://fotoblog-reiseberichte.de/fototouren_reiseberichte/belgische-kueste/
Hallo Jens,
es freut mich dass dir mein Beitrag über die belgische Küste gefällt. Den ausführlichen Reiseberichte auf eurem Fotoblog entnehme ich, dass es euch dort sehr gefallen hat und ihr euch viel angeschaut habt. Vor allem die authentische Beschreibung übers Reisen mit Kind hat mir sehr gefallen :).